Harald Messermayer schaute ein wenig verlegen drein: „Wo ist denn der Knopf für den Lautsprecher?“, fragte er – und war Sekunden später im ganzen Zug zu hören: „Tschuldigung, liebe Leute!“ Aber anstatt zu fluchen, zu schimpfen oder sonstwie Unmut Ausdruck zu verleihen, verhielten sich Messermayers Fahrgäste recht unwienerisch: Sie lachten – obwohl sie ziemlich durchgebeutelt worden waren. Denn Harald Messermayer hatte gerade eine Notbremsung hingelegt. „Eine 1A-Notbremsung“, präzisierte Gerhard Reutter. „Die war nicht geplant, aber so spürt man am besten, was für Kräfte da frei werden.“
Fahrlehrer in unterschiedlichen Welten
Messermayer und Reutter sind Fahrlehrer. Aber in unterschiedlichen Welten: Der eine – Reutter – ist Straßenbahn-Instruktor bei den Wiener Linien. Der andere – Messermayer – bildet AutolenkerInnen aus. Und just deshalb saßen beide Fahrlehrer im Führerstand einer 43 Tonnen schweren ULF-Garnitur – und legten am Ring die „1A-Notbremsung“ hin. Eine Fußgängerin hatte nur auf die Autos geschaut und war, vom Läuten der Bim ungerührt, wie ferngesteuert auf die Schienen getreten. „Ein Klassiker“, meinte Reutter. Und war zufrieden: „Genau darum geht es, zu zeigen, wie sich sowas aus unserer Perspektive anfühlt.“
Dann sah er in die Runde: „Wer ist der nächste?“ Harald Messermayer war nämlich nicht der einzige (Auto-)Fahrlehrer im Zug. Mit ihm saß ein Dutzend KollegInnen im Sonderwagen der Wiener Linien. Und jeder durfte den ULF ein Stück den Ring entlangfahren. Nicht aus Jux und Tollerei, erklärte der Chefinstruktor der Straßenbahnausbildung bei den Wiener Linien, Thomas Linsmeier: „Wir wollen AutofahrerInnen sensibilisieren: Wie erlebt der Lenker eines Schienenfahrzeuges Situationen? Und welche Möglichkeiten hat er, zu reagieren.“ Nachsatz: „Und was sind die Konsequenzen?“
Ein Gefühl der Ohnmacht?
Also bitten die Wiener Linien regelmäßig angehende FahrschullehrerInnen zum „Perspektivenwechsel“. Das Angebot kommt gut an. Über 800 Kfz-InstruktorInnen haben in den vergangenen Jahren bereits mitgemacht. Und jeder staunte: In der Theorie ist jedem klar, dass ein Schienenfahrzeug nicht zur Seite rücken kann. In der Praxis aber knapp und in letzter Sekunde hereinschneidenden Autos, auf Gleise tretenden FußgängerInnen oder auf der Gehsteigkante „balancierenden“ PassantInnen keinen Millimeter ausweichen zu können, „ist echt was anderes“, beschrieb Bim-Probelenker Messermayer: „Das ist ein Gefühl der Ohnmacht.“
Alles, was auch ein echter Straßenbahnfahrer tun könne, lobte Gerhard Reutter, habe Messermayer getan: Der Fahrlehrer habe weit genug vorausgeblickt, geklingelt – und dann den „Gas- und Bremshebel“ zurückgerissen. „Wenn 43 Tonnen von 50 km/h auf 32 Metern zum Stillstand kommen sollen, werden enorme Kräfte frei“, beschrieb Chefinstruktor Linsmeier technisch, was dann geschah: Die Fahrgäste im Zug schleudert es ordentlich herum. „Man kann nie ausschließen, dass dabei jemand zu Sturz kommt.“
Multiplikatoren für mehr Sicherheit
Genau deshalb setze man auf die FahrlehrerInnen. „Das sind die Multiplikatoren. Sie geben das, was sie hier erleben, weiter“, betont Linsmeier. Auch die Fahrschulen stehen zu diesem Konzept, erklärt Walter Gerbautz, Geschäftsführer der Fachvertretung der Fahrschulen in der Wiener Wirtschaftskammer: „Die Resonanz ist sehr, sehr gut. Man lernt am besten aus der Praxis. Darum soll jeder Fahrlehrer einmal hier dabei sein.“
Gerbautz selbst war zu Beginn des Programms einer der ersten, die mitmachten. Das „Aha-Erlebnis“ wirkt bis heute: „Wie wenig man tun kann, wenn die anderen sich rücksichtslos verhalten, wird einem erst bewusst, wenn man im Führerstand einer Straßenbahn sitzt.“
Freilich: Dem Mann aus der Wirtschaftskammer machte das Bim-Fahren „auch viel Spaß“. So wie allen, die da einmal „schnuppern“ durften: Vor dem Start des kleinen Ausfluges in die Welt der Schienenfahrzeuge waren alle FahrlehrerInnen sichtlich nervös. Doch die Anspannung löste sich rasch. „Das ist ja richtig lustig“, lachte die angehende Fahrlehrerin Sonja Stojanovic, wusste aber auch, „dass es einen großen Unterschied macht, ob man kurz am Ring spazieren fährt – oder sich stundenlang auf gemischt genutzten Verkehrsflächen total konzentrieren muss, weil man auch versucht, die möglichen Fehler der anderen vorherzusehen. Man trägt da ja Verantwortung für ein paar hundert Menschen. Mein Respekt vor Straßenbahnfahrern ist auf jeden Fall enorm gestiegen.“
Hineinversetzen in den anderen
Wechselseitiger Respekt, betont Bim-Chefinstruktor Thomas Linsmeier, sei ein ganz wesentlicher Faktor auf dem Weg zu mehr Sicherheit. In einem Punkt, scherzte er, seien nämlich alle VerkehrsteilnehmerInnen – egal ob FußgängerInnen, Rad-, Motorrad-, Auto-, Bus- oder BimfahrerInnen – absolut gleich: „Verkehr ist so wie Fußball: Da gibt es acht Millionen Ahnungslose – und nur man selbst glaubt zu wissen, wie es richtig geht. Wenn man das akzeptiert, dann wird das Reinversetzen in den Anderen plötzlich viel leichter. Das hebt die Sicherheit und reduziert die Aggressionen. Übrigens: Nicht nur im Straßenverkehr. “
Text: Thomas Rottenberg/VORmagazin